Von Oberst Dominik Knill, Präsident SOG. Erschienen in der ASMZ-Ausgabe 05 2022.
«Gewalt ist nie eine Lösung.» Wirklich? Gerade die Anwendung des Gewaltmonopols kann für Nationalstaaten von existentieller Bedeutung sein. Unsere postheroische Gesellschaft konnte den Krieg in der Ukraine nicht verhindern, während der Heroismus uns am empfindlichsten Punkt treffen kann: Er führt uns unsere eigene Unzulänglichkeit vor Augen.
Vor langer Zeit erschoss ein Mann aus der Region den Staatsbeamten, um sich damit seiner Festnahme zu entziehen. Als Motiv gab der Täter an, dass er das Vorgehen und Wirken des Reichsvogts stoppen wollte. Seine Machenschaften würden gegen die Interessen des Volkes verstossen. Aus heutiger Sicht hätte die Regierung diesen Mord als terroristischen und kriminellen Akt eingestuft. Ein guter Nachrichtendienst hätte den Anschlag vermutlich verhindern können, sofern die geeigneten gesetzlichen und technischen Möglichkeiten vorhanden gewesen wären.
Und so führte der Anschlag zum Tod des Habsburger Reichsvogts Gessler und zum Aufstieg von Wilhelm Tell, als nationale Ikone, stellvertretend für Freiheit, Unabhängigkeit und Gerechtigkeit. Aber das ist ja nur eine Legende. Tell, als gewaltbereiter «toxischer» Mann, der heutzutage unter strenger Beobachtung stände und dem Pathologischen zugerechnet würde.
Nun herrscht Krieg in der Ukraine. Irritierenderweise stehen Gewalttäter nicht nur auf der Seite des Bösen, sondern, aus westlicher Sicht auch auf der Seite des Guten. Ohne diese wäre es mit dem Land schon lange vorbei. Dies könnte die grundsätzliche Übereinkunft, dass Gewalt niemals eine Lösung ist, in Frage stellen. Seit Generationen wurde sie, als eine Art von Selbsttäuschung, nie hinterfragt. Gewalt kann eine Lösung sein. Sie ist und war das in der Vergangenheit sogar häufig. Ironie der Geschichte. Nur dank brachialer Gewalt durch Stalin konnte Hitler und die Wehrmacht im Osten gestoppt werden. Wenn Friede eine labile Phase zwischen zwei Kriegen ist, sollten wir es schätzen, dass Europa in den letzten 75 Jahren verschont blieb. Soft-Power, Rechtstaatlichkeit, Diplomatie, Globalisierung mit «Wandel durch Handel» konnten den Krieg in der Ukraine nicht verhindern. Sogar die UNO, mit dem Ziel, Frieden zu festigen und Kriege zu verhindern, blieb recht zahn- und machtlos. Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 gilt das Gewaltmonopol für Nationalstaaten. Es erlaubt ihnen, ihre Daseinsberechtigung, notfalls mit Gewalt, durchzusetzen. Hat unsere postheroische wohlfahrtsverwöhnte Gesellschaft noch Platz für Helden, bzw. Bürger und Bürgerinnen, die sich, mit und ohne Uniform, einsetzen für eine kollektive Sicherheit in Freiheit und Unabhängigkeit? Machen wir uns verdächtig, wenn wir für unsere Werte einstehen, das militärische Handwerk erlernen, Traditionen pflegen und fördern?
Das Streben nach noch mehr Wohlstand und Hedonismus, verbunden mit sozialer und individueller Selbstzufriedenheit, schwächt unsere Demokratie, die vom Frieden verwöhnt wurde. Dass eine bewaffnete Neutralität auch zur ultimativen Gewaltanwendung bereit sein muss, wurde vom pazifistischen Gedankengut immer wieder ausgeblendet. Macht- und Gewaltpolitik kennen die Sprache des Stärkeren. Die diplomatische Schweiz, mit ihren guten Diensten, scheint seit der Übernahme der europäischen Sanktionspolitik gegen Russland, an Einfluss verloren zu haben.
Umso mehr muss die Schweizer Armee, als wichtigster Sicherheitsgarant, verstärkt und im Rahmen der Neutralitätspolitik aktiver werden. Bereits 1993 schrieb der Bundesrat in seinem Bericht zur Neutralität: «Die Neutralität der Schweiz soll die Sicherheit des Landes fördern und nicht die Verteidigungsfähigkeit schmälern. Die Neutralität darf einen neutralen Staat nicht daran hindern, Lücken in seinem Verteidigungsdispositiv durch grenzüberschreitende Vorbereitungen zur Abwehr eines möglichen Angriffs zu schliessen». Eine vertiefte Grundsatzdiskussion über eine Annäherung, ohne Beitritt, an ein Militärbündnis muss politisch mehrheitsfähig werden. Gemeinsame Übungen, Austausch von Informationen, Schulung der Interoperabilität, abgestimmte Einsatzverfahren, Harmonisierung von Rüstungsbeschaffungen, Teilnahme an Friedensoperationen, können die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der militärischen Schweiz international stärken.
Eine kontinuierliche Aufstockung des Verteidigungsbudgets auf 7 Milliarden pro Jahr bis 2030 sind rasch zu bewilligen und umzusetzen. Nach den schockierenden Ereignissen an der Ostgrenze von Europa werden Sinn und Zweck einer Armee weniger hinterfragt oder gar verneint. Der verstärkte Wille, Militärdienst zu leisten, dürfte die Abgänge von diensttauglichen Männern in den Zivildienst reduzieren. Eine Erhöhung des Sollbestands auf 120’000 AdA müsste zu gegebener Zeit eine politische Mehrheit finden. Die Debatte um eine Dienstpflicht für Frauen und Männer gewinnt mit der bedarfsorientierten Dienstpflicht an Dynamik. Die SOG bevorzugt die Sicherheitsdienstpflicht mit der Zusammenlegung von Zivilschutz und Zivildienst in einen Katastrophenschutz. Auch unterstützt sie den obligatorischen Orientierungstag für Frauen. Damit verbunden wäre eine minimale Dienstpflicht für Frauen von 1-3 Tagen. Gleiches Recht auf Informationen für Mann und Frau. Für die Umsetzung kommt den Kantonen eine tragende Rolle zu. Die Lancierung der Initiative «Service Citoyen» auf Ende April ist, wenn nicht unangebracht, zumindest unpassend. Bis Ende 2024 sollten wir wissen, in welche Richtung die Dienstpflichtreform geht. Warum nicht schon früher?
«Gewalt, die befreiende Gewalt des Volkes gegen die innere und/oder äussere Unterdrückung, dies ist der Urstoff, aus dem die modernen Demokratien ihre Legitimität bilden.»
Joschka‘ Fischer