Solidarität polarisiert

Von Oberst Dominik Knill, Präsident SOG. Erschienen in der ASMZ-Ausgabe 01-02 2022.

Kann man Solidarität einfordern? Nein, sie ist wünschenswert, aber kein Gesetz. Im Frühling 2020 ist die Pandemie eine neue Erfahrung für uns alle gewesen. Diese Stimmung ist verflogen. Und doch, die Armee und der Zivilschutz leisten solidarisch subsidiäre Unterstützung. Danke.

Mit dem Beginn des neuen Jahrs haben viele von uns ein Déjà-vu. Hofften wir noch Ende 2020, die Pandemie sei in zwölf Monaten erledigt, sehen wir uns heute erneut getäuscht, auch wenn es durchaus Hoffnung auf eine baldige Besserung gibt. Wir können behaupten, vieles richtig gemacht zu haben. Die Impfkampagne stand im Mittelpunkt, die Armee im Einsatz. Finanzielle Mittel und ausreichend Impfdosen waren vorhanden. Doch dann die Ernüchterung. Genug Impfmöglichkeiten, aber zu wenig Impfwillige.
Der Appell an die Solidarität gerät immer mehr ins Stocken. Wofür steht der Begriff? Gemeint ist meist eine Haltung, eine ethische und politische Verbundenheit zwischen den Menschen in einer Gesellschaft und fördert das gegenseitige Eintreten in der Gemeinschaft. Geteilte Werte, Überzeugungen und gemeinsame Ziele spielen dabei eine zentrale Rolle. Man sollte meinen, dass dies auch auf die Pandemie und die Armee zutreffen sollte. Warum hat die Armee mit der Solidaritätsfrage einen so schwierigen Stand? Vielleicht ist es einfacher, solidarisch gegen etwas zu sein.
Um bei der Armee zu bleiben: Wir haben finanzielle Mittel und beschaffen das richtige Material. Doch dann die Ernüchterung. Es fehlen genügend Wehrdienstwillige. Die Armee kann den Schutz nicht bieten, der von ihr verlangt wird, wenn ihr die Menschen fehlen, die sich solidarisch für Sicherheit und Frieden einsetzen. Bei den vielen Abgängen in den Zivildienst steht oft ein Egoismus im Zentrum, statt einer Solidarität mit den restlichen Angehörigen der Armee.
Welchen Stellenwert hat Solidarität in unserer wohlstandsverwöhnten Gesellschaft noch? Durch die zunehmende Individualisierung schwindet der innere Zusammenhalt moderner Gesellschaften deutlich. Solidarität verliert oft schnell an Wert und Wirkung, wenn sie nur noch von einer Minderheit getragen wird.
Eine von mehreren Staaten getragene Abwehr würde einer «kollektiven Sicherheit» oder einer «Strategischen Solidarität» (Jens Stoltenberg, 2021, Nato-Generalsekretär) gleichkommen. Der Begriff «Solidarität» hat in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit den jüngsten Deklarationen von EU und Nato ein neues Gewicht bekommen. Es geht auch um die zukünftige Entwicklung politischer und ideeller Positionen unter den «gleichgesinnten» Staaten Europas. Solidarität unter Partnern setzt voraus, dass die Partner verbindliche Vorleistungen erbringen. Nur, Solidarität auf politischer Ebene ist nicht, wie oben erwähnt, ein strategischer Begriff. Staaten kennen keine Freunde; sie kennen Interessen (Bismarck, 1815 bis 1898). Solidarität ist oft eine Einsicht in die eigene Unfähigkeit, im Alleingang nicht überleben oder gar siegen zu können.
Was heisst das für die schweizerische Sicherheitspolitik? Nur wenn ein Staat bereit und fähig ist, etwas anzubieten, kann er damit rechnen, dass ihm auch geholfen wird. Was kann die Schweiz von anderen erwarten, wenn ihre Durchhaltefähigkeit in einem Verteidigungskampf einmal erschöpft ist? Das Einfordern von Solidarität hat dann am meisten Erfolg, wenn es aus einer Position der Stärke erfolgt.
Neutralität und Solidarität dürfen sich nicht ausschliessen. 1993 schrieb der Bundesrat in seinem «Bericht zur Neutralität» folgendes: «Die Neutralität der Schweiz soll die Sicherheit des Landes fördern und nicht die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz schmälern. Die Neutralität darf einen neutralen Staat nicht daran hindern, Lücken in seinem Verteidigungs dispositiv durch grenzüberschreitende Vorbereitungen zur Abwehr eines möglichen Angriffs zu schliessen.»
Wie kann eine dauernde Neutralität an die neuen Bedingungen für die Verteidigung der Schweiz im Ernstfall angepasst werden? Auch Solidarität und Unabhängigkeit schliessen sich nicht aus, wie die militärische Friedensförderung es beweist. Solidarisch mit der UNO/OSZE, aber unabhängig, wenn es um die Umsetzung der Einsatzdoktrin geht. Eine militärische Kooperation in Friedenszeiten verstösst nicht gegen das Neutralitätsrecht, sofern sich die Schweiz dadurch nicht in kriegerische Handlungen hineinziehen lässt, wo die Gewaltanwendung im Zentrum der Operation steht (Caveat).
Mit der Wahl des F-35A leistet die Schweiz einen soliden Solidaritätsbeitrag zur europäischen Sicherheitspolitik und Verteidigungsbereitschaft. Daraus abzuleiten, dass sich die Bevölkerung nun grundsätzlich solidarisch hinter die Beschaffung des F-35A stellt, ist gewagt. Hier ist dringend Aufklärungsarbeit notwendig. Am 27. September 2020 stimmten die Befürworter mit einem Ja für ein neues Kampfflugzeug. Die Gegner der Beschaffung neuer Kampfjets sagten Nein und hadern mit diesem Resultat.
Mit der «Stop F-35»-Initiative kommt es vermutlich erneut zu einer Abstimmung über die Zukunft der Luftwaffe. Hier gilt es, besonders vorsichtig zu sein. Nur wenn wir an der Urne Nein zur Initiative stimmen, sagen wir Ja zur Beschaffung des F-35A! Wir müssen diese Botschaft klar und unmissverständlich verbreiten. Die Bürger und Bürgerinnen dürfen nicht getäuscht werden. Es gilt, den Volkswillen zur Beschaffung neuer Kampfjets zu akzeptieren und umzusetzen.
Damit jemand solidarisch sein kann, muss er entsprechend zunächst für sich selbst Verantwortung übernehmen. Nur wenn es uns gut geht, können wir auch für andere sorgen. Solidarität setzt Eigenverantwortung voraus.

«Wir sind zur Solidarität bereit, aber dieses Land wird unter meiner Führung für Abenteuer nicht zur Verfügung stehen.»
Gerhard Schröder